Das Buch der Hundertjährigen by Richter Ursula;Reher Gudrun (Hrsg.)

Autor:Richter, Ursula;Reher, Gudrun (Hrsg.) [Richter, Ursula;Reher, Gudrun (Hrsg.)]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3499226766
Herausgeber: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
veröffentlicht: 1999-12-29T23:00:00+00:00

Das Leben war schwer

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Luise Wegner

Jahrgang 1898

Was möchten Sie von mir? Ein Buch über Hundertjährige? Meinen hundertsten Geburtstag habe ich ganz groß gefeiert, ich habe viele Blumen bekommen, so viel Besuch war hier, und es war kirchlich und feierlich, ein wunderschöner Geburtstag!

Wenn ich mit meinem Zuhause beginnen soll, ich hatte noch fünf Geschwister, ja, wir waren zu sechst. Der Vater war Fischer, und wir lebten in Pommern, in Stepenitz am Haff, im heutigen Polen. Bis 1945 habe ich dort gelebt.

Die Mutter meiner Nichten, die mich jetzt noch immer besuchen, und ich waren die beiden Jüngsten, und eine mußte immer zu Hause bleiben und dort helfen, und die andere ging irgendwo in Stellung, wir wechselten. Ich war in Berlin, habe daran aber nicht mehr so viele Erinnerungen.

Mein Vater war ein ganz großer Fischer. Alles, was im Haff herumschwamm, fischte er. Zander, Plötzen, Barsche, Aal, alles gemischt, mit dem Netz und mit Angelschnüren. Wir Mädchen hatten auch eine Angel, die wir auswarfen. Eines von uns Kindern mußte immer mit, denn mein Vater war allein, hatte keine Hilfe, und da mußten wir Kinder ihm Beistand leisten. Mußten mit ihm hinausfahren, um mit anzupacken. Die Ruder halten und das Netz einholen, das ging nicht beides für einen Mann allein. Geräuchert hat er natürlich auch. Aale, oh, da war er ganz groß. Das konnte er, mit Spänen wurde geräuchert, mit Buchenspänen, ja, ja. Wir haben meist direkt am Hafen unsere Ware verkauft. Es gab einen großen und einen kleinen Hafen und einen wunderbaren Strand mit ganz weißem Sand. Es hieß ja auch Bad Stepenitz. Da kamen die Stettiner immer rüber und kauften ein. Ich habe immer auch selbst sehr gerne Fisch gegessen, hier in Strasburg habe ich auf dem Markt Fisch für mich eingekauft, dort war er frisch. Aber das war ein anderes Leben hier in Strasburg als zu Hause, und jetzt ist auch das vorbei. Hier im Altenheim werde ich versorgt, allein ginge es jetzt nicht mehr.

1931 verstarb der Vater, die Mutter war schon sehr früh, 1923, glaube ich, war sie mit Sechsundsechzig oder siebenundsechzig Jahren verstorben. Ja, meine Schwester und ich waren Nachkömmlinge und die Mutter schon über vierzig, als wir zur Welt kamen. Die anderen Geschwister waren sehr viel älter und schon aus dem Haus, ein Bruder wohnte in Berlin, das Wasser hat ihn auch geprägt, er besaß einen Schlepper und ist auch sehr alt geworden, 93 Jahre.

Beim Angeln, wenn wir mit auf dem Boot waren, trugen wir normale Kleidung, unsere Alltagskleidung, lange Röcke. Nein, Hosen oder Arbeitsanzüge kannten wir gar nicht, wir haben uns doch nicht verkleidet! Wir mußten kräftig rudern, und der Vater holte die Netze, Reusen und Angelschnüre ein. Es war selbstverständlich, daß wir das machten, allein konnte er das nicht. Oh, schwimmen konnte ich nicht, das habe ich nie gelernt. Wir hatten als Kinder auch einen Sonntagsstaat, ein schönes, gutes Kleid, es gibt noch irgendwo in der Familie meiner Schwester ein Foto, wo wir beide mit den Kleidern und Strohhüten mit Blumen darauf zu sehen sind.

Ich selbst habe keine Kinder, mein Mann Franz fuhr zur See, «große Fahrt» sagten wir dazu.

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